Kapitel 38 - Umzug in die entwicklungsorientierte Schule

38 Umzug in die entwicklungsorientierte Schule

Ich versuche zusammenzufassen. Entwicklungsorientierte Schule ist Zukunftsmusik. Aber sie ist Zukunftsmusik, die man schon morgen anfangen könnte, weil alle „Zutaten“ trotz Lehrermangel vorhanden sind. Und es geht auch nicht um fehlendes Geld. Es geht eigentlich „nur“ um eine Blickwinkeländerung, die allerdings von den Bildungsbehörde zugelassen werden muss. Die auch richtig schwierig durchzuführen ist, weil es für alle Seiten ein Verlassen der eigenen sicheren Burg bedeutet. Weil es ein Wagnis mit scheinbar unsicherem Ausgang ist. Das man umso lieber eingeht, wenn sonst nichts mehr geht. Vielleicht dann, wenn man, wie in Sachsen-Anhalt, vor so großen Personalproblemen stehend, die Viertagewoche als mögliche Alternative ausruft. In der großen Hoffnung, dass innovative Schulen aus der Not heraus zukunftsgerichtete Initiativen ins Leben rufen könnten. Wie auch immer. Das ist vielleicht der entscheidende Startschuss für den Paradigmenwechsel. Vielleicht so - nur eben mit Duldung des Kultusministeriums - wie bei der Umwandlung des fiktiven Schiller-Gymnasiums in die fiktive Laborschule in Weit im Winkl 2013. Das wäre dieses Weit im Winkl 3.0, von dem ich des öfteren geschrieben habe. Speziell im Adventskalender auf dem Blog. Ich darf zitieren. https://www.aufeigenefaust.com/weit-im-winkl/die-geschichte/die-schul-story/

Ungefähr 10 Jahre ist es her, dass das kleine einzügige Schiller-Gymnasiums in Weit im Winkl, kurz "das Schiller", der erstaunten Öffentlichkeit erzählte, dass sie im Jahre 2013 zur Revolte angetreten war. 2013, das war der Beginn des großen vereinheitlichten Bildungssparprogramms im Ländle. Es war das zweite Jahr, in dem die Gymnasialempfehlung als Eintrittskarte für das Schiller weggefallen war und seither einfach alle Kinder dieser ländlichen Umgebung zu Gymnasiasten wurden. Es waren ja auch immer nur zwischen 25 und 30 Kinder, die sich in den zwei Grundschulen pro Jahrgang tummelten. Deshalb kooperierte das Schiller sehr schnell mit diesen beiden Schulen. Man kämpfte in dieser ländlichen Abgeschiedenheit mit Ideen gegen die immer über allem schwebende Bedrohung der Schließung aus Gründen der Ineffizienz. Die Bevölkerungspyramide hatte für Schulen bedrohliche Formen angenommen.

Das Schiller war damals mit Lehrern noch recht komfortabel ausgestattet, sollte deshalb einige junge Kollegen als Abordnung an andere Gymnasien in der Rheinschiene abgeben. Man hatte die vielen außergewöhnlichen Projekte der Schule zwar immer wieder hoch gelobt, aber mit den Sparmaßnahmen vor das Aus gestellt. "Wir können nichts dafür. 2020 muss der Haushalt stimmen." wiederholten die Politiker unentwegt sehr ernsthaft und glaubwürdig.

"Aber mir sen au ned schuld!" brüllte der damalige frisch ins Amt gekommene Direktor Paul Enderle auf einer Gesamtlehrerkonferenz. Ein Schwabe mit breitem Dialekt. Er war gerade mal 38 Jahre alt. Zwischen 40 und 65 Jahren gab es in Baden-Württemberg damals sowieso kaum Gymnasiallehrer/innen, weil ein Vierteljahrhundert lang niemand mehr eingestellt wurde. "Schweinezyklus" nannte es Enderle. "Absolut ohmeglich! On jetz goht des Ganze scho wiedor los." Enderle war Urschwabe, gebürtiger Remstäler aus Waiblingen und konnte trotz seines sonnigen Gemüts sehr zornig werden. "Also i sag eich. Mir machad jetz oifach nemme mid. Do gibts enzwischa die Hättie Schdudie on koi Sau indressierds do oba. I han heid morga dor Steggor zom Kuhmi rauszoga. Also zom ErPe. Jetz semm miar teilautonom. So isch des." Tosender Applaus. Das Kollegium konnte schon nach zwei Monaten Dienstzeit mit dem Dialekt ihres neuen Chefs wunderbar umgehen.

Enderle hatte seinen Plan seit einiger Zeit im Kollegium verbreiten lassen. Widerstand. Ausklinken. Den Stecker ziehen. Darauf hoffen, dass man bei einem einzügigen Gymnasium mit gerade mal 200 Schülern und 24 Lehrern wie dem Schiller im Verwaltungsnetz allerhöchstens ein leises Rauschen bemerkte, wenn man sich als Schule klammheimlich abkoppelte. So dicht an der Grenze. Sich also aus der immer stärker wachsenden Kontrolle durch das Regierungspräsidium (kurz ErPe) entwinden, um dem völligen Trockensparen doch noch zu entgehen. "Des kenna mir selbor doch oifach besser. Mid onsorm Konzebt sen mir ohschlagbar. On wenn des en a baar Joar uffliagt, no kann des Experimend koiner meh abbrecha. Sonsch blamierd der sich vollkomma. Sen er dobei?" Enderle war in seinem Element, war vollkommen echauffiert. Stehende Ovationen. Eine rebellische Schar von zwei Dutzend meist jungen Lehrer/innen. Sein Kollegium stand komplett hinter ihm.

Ja und so kam es, dass das Schiller "teilautonom" wurde, wie sie es nannten. Sich komplett selbst verwaltete, nur jedes Jahr das Zentralabitur mitschrieben und sich ansonsten ganz still verhielten.

Wie es Enderle vorausgesagt hatte, verschwand das Schiller unbemerkt vom Schirm des Regierungspräsidiums und vom Schirm des Kulturministeriums. Beim Landesamt für Besoldung und Versorgung ahnte man nicht, welche Ungeheuerlichkeit sich das Lehrerkollegium von Weit im Winkl geleistet hatte.  Ja, sie hatten sich komplett aus dem Wahnsinn aus Vorschriften und Auflagen ausgeklinkt. Stecker gezogen. Und hatten ihre eigene Schule neu erfunden. Und sie legten sich einen neuen Namen zu. "Warum emmr so große Nama?" hatte Enderle gesagt. Ja und so wurde das Schiller-Gymnasium zum Laborgymnasium "Auf-eigene-Faust".

Dem Café L, wie es viele liebevoll nannten. Weil es einfach anders war als alles andere, was man sonst kannte.

Wer weiß, vielleicht wird es demnächst in der Realität immer wieder solche Laborschulen geben, die entwicklungsorientiert agieren, weil man ihnen aus schierer Not heraus die Freiräume eingeräumt und das Kollegium den Mut und die Lust aufgebracht hatte, aus der Notlage auszubrechen und Neues zu wagen.